Die Volksdemokratien (Orientierungstexte Dezember 1971)

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aus dem LO-Parteitag
Dezember 1971

Die Volksdemokratien

 

1 - Eine ganze Reihe mitteleuropäischer Staaten weist die Besonderheit auf, dass ihre wirtschaftliche und soziale Struktur derjenigen der Sowjetunion ähnelt und ihre Regimes eng von der russischen Bürokratie abhängig sind.

Die Staaten der Volksdemokratien mögen formal große Ähnlichkeiten mit dem Sowjetstaat aufweisen, ihr Klassencharakter ist jedoch ein anderer.

Die Volksdemokratien als Arbeiterstaaten zu bezeichnen, ist Unsinn, auch mit dem Zusatz „degeneriert“ oder „deformiert“.

Der Arbeiterstaat ist kein abstraktes Konstrukt. Er ist die von der proletarischen Revolution errichtete Staatsmacht. Ein solcher Staat kann unter konkreten Bedingungen verschiedene konkrete Formen annehmen. Er kann sogar degenerieren und in seinem Inneren eine parasitäre Kaste hervorbringen, wie die Erfahrung des Sowjetstaates gezeigt hat. Aber er kann nicht aus dem Nichts entstehen.

2 - Kein Staat der Volksdemokratien wurde durch eine proletarische Revolution errichtet. Dass die russische Armee beim Entstehen dieser Staaten als Geburtshelfer aufgetreten ist, ändert daran nichts.

Diese Staaten wurden sofort nach dem Weltkriege gegründet, um das Vakuum der Staatsmacht zu füllen, das durch den Zusammenbruch Deutschlands entstanden war, unter der Schirmherrschaft und dem Schutz der konterrevolutionären Heiligen Allianz der russischen Bürokratie und des angelsächsischen Imperialismus. Gelegentlich mit den Trümmern der Staatsapparate der Vorkriegszeit und in jedem Fall auf die bürgerlichen Nationalkräfte gestützt, hatten diese Staaten nie eine andere Beziehung zur Arbeiterklasse als die der Unterdrückung. Sie waren und sind bürgerliche Staaten.

3 - Der Bruch der UdSSR mit den angelsächsischen Mächten und das anschließende Bestreben des Kremls, aus den osteuropäischen Ländern ein Glacis zu bilden, führte zu einem immer stärkeren Griff und einer immer festeren Kontrolle der Bürokratie über die Staaten in ihrem Einflussbereich.

Hätte die Bürokratie diesen Griff bis zur vollständigen Integration dieser Länder in die Sowjetunion, also bis zur Vernichtung ihrer Staaten und deren Ersetzung durch ihren eigenen Staatsapparat, vorantreiben können und wollen, wie sie es mit den baltischen Ländern getan hat, würde sich die Frage nach dem sozialen Charakter der Volksdemokratien heute nicht stellen. Aber sie tat es nicht.

4 - Nichtsdestotrotz haben die drakonischen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die die russische Bürokratie ergriff, um der mächtigen Anziehungskraft des kapitalistischen Westens entgegenzuwirken und ihre Hegemonie zu sichern, tiefe Spuren in diesen Staaten hinterlassen, so dass es in mancher Hinsicht gerechtfertigt ist, von deformierten bürgerlichen Staaten zu sprechen. Die Volksdemokratien weisen im Vergleich zu den meisten Staaten der rückständigen Länder in der Tat Besonderheiten auf, die auf die russische Herrschaft zurückzuführen sind oder durch sie verstärkt wurden.

5 - Zum einen auf wirtschaftlicher Ebene. Aufgrund des Zusammenbruchs und der Abwanderung der Deutschen, die vor und vor allem während des Krieges in der Regel den Löwenanteil der Industrie besaßen, war die Verstaatlichung der wichtigsten Industrieunternehmen ohnehin eine lebensnotwendige Notwendigkeit für die Wiederaufnahme des Wirtschaftslebens. Sie wurde von Regierungen begonnen und größtenteils abgeschlossen, die noch weit davon entfernt waren, vollständig unter der Kontrolle des Kreml zu stehen.

Die Vollendung dieser Verstaatlichungen und die damit verbundene Planung, der fast vollständige Bruch mit dem westlichen Markt und die Errichtung des Außenhandelsmonopols waren hingegen Verteidigungsmaßnahmen der russischen Bürokratie gegen den wirtschaftlichen Einfluss des Westens auf ihr Glacis, Verteidigungsmaßnahmen, die durch die Tatsache erleichtert wurden, dass die Bürokratie in keinem dieser wirtschaftlich rückständigen Länder eine mächtige Bourgeoisie zu brechen und zu enteignen hatte. Während des Kalten Krieges konnte die Bürokratie die engen Verbindungen zwischen den nationalen Bourgeois und dem Imperialismus nicht einfach stehen lassen.

6 – Zum andern auf der politischen Ebene. Die Entstehung von Diktaturen war in der Unterentwicklung dieser Länder und den sich daraus ergebenden sozialen Widersprüchen angelegt. Der russische Einfluss verlieh diesen Diktaturen jedoch eine besondere Färbung, insbesondere da die Auswahl der Männer an der Spitze der Diktatur von Moskau getroffen wurde oder zumindest der Zustimmung Moskaus unterlag.

Die Deformationen, die diese Staaten durch die russische Kontrolle erlitten haben, ändern nichts an ihrem Klassencharakter, umso mehr ist es völlig abwegig, diese Deformationen als Kriterium für den Sozialismus heranzuziehen.

7 - Das Auftreten von Zentrifugalkräften, die dazu neigen, die Unterwerfung unter den Kreml zu schwächen, ist kein zufälliges Phänomen. Sie liegt im Klassencharakter dieser Staaten, die ganz ihrer Natur entsprechend versuchen, sich einer lästigen Bevormundung zu entledigen und ihre Beziehungen zum Westen wieder aufzunehmen.

8 - Diese Tendenz, die durch den Terror des russischen Staates in den frühen 1950er Jahren erstickt und zerschlagen wurde, hat seitdem wieder an Kraft gewonnen. Und das aus zwei Gründen.

Zum einen, weil die herrschenden Schichten, die 1945 auseinandergerissen, geschwächt und zu Beginn des Kalten Krieges unter sowjetischer Kontrolle wieder dezimiert wurden, seitdem wieder erstarkten. Trotz der bürokratischen Verwaltung und der Ausplünderung durch die russische Bürokratie erlebten diese Länder eine unbestreitbare wirtschaftliche Entwicklung. Der wachsende Wohlstand kam in erster Linie den oberen Schichten der Gesellschaft zugute. Die Schicht der Parvenüs, der Profiteure aller Art und der Neureichen, wurde gestärkt, verbreitert und bis zu einem gewissen Grad gefestigt. Sie waren es, die die auf nationaler Ebene die soziale Basis der volksdemokratischen Staaten bildeten.

Zum anderen, weil zusammen mit dem Tod Stalins und der anschließenden Führungskrise in der UdSSR der sowjetische Einfluss in gewissem Maße geschwächt wurde.

Die Versuchung, sich einen Spielraum für Unabhängigkeit von Moskau zu sichern, wuchs in dem Maße, in dem die bestehenden Regime ihre eigene nationale soziale Basis festigten. Unter der nachlassenden Kontrolle der sowjetischen Bürokratie konnte sie sich entfalten.

9 - Die Entwicklung der Volksdemokratien in den letzten zwanzig Jahren war geprägt von der ständigen Wechselwirkung und manchmal auch vom gewaltsamen Zusammenstoß dreier Kräfte mit bewusst oder unbewusst gegensätzlichen Interessen: die russische Bürokratie, die Staatsvertreter und das Proletariat.

Die russische Bürokratie versuchte das Entstehen einer autonomen proletarischen Bewegung zu verhindern, indem sie sich auf die Führungsschichten der Nationalstaaten stützte, und zugleich, die Nationalstaaten daran zu hindern, aus ihrem Orbit auszubrechen.

Die Vertreter des Staatsapparats wollten sich der russischen Umklammerung entziehen, aber abgesehen davon, dass sie in jedem Fall eng von der Sowjetbürokratie kontrolliert wurden, brauchten sie deren Unterstützung, um die proletarischen Kräfte zu bewältigen, sobald diese Kräfte sich nicht mehr mit einer unterstützenden Rolle in den Auseinandersetzungen zwischen ihren Staaten und dem Kreml zufrieden gaben.

10 - Schließlich war das Proletariat mangels einer konsequenten revolutionären Partei in keinem der Länder der Volksdemokratien in der Lage, klar unter seiner eigenen Fahne und für seine eigenen Ziele zu kämpfen. Ihre Interessen standen jedoch objektiv sowohl denen der russischen Bürokratie als auch denen der Vertreter des nationalen Staatsapparats entgegen.

Am deutlichsten zeigte sich diese Divergenz der Interessen während des ungarischen Aufstands. Den Vertretern des nationalen Staatsapparats gelang es nur teilweise, den Kampf der Arbeiterklasse in den Rahmen ihrer eigenen Forderungen zu lenken. Zwar hat das ungarische Proletariat politisch zu keinem Zeitpunkt mit der Nagy-Regierung gebrochen, hatte aber durch die Schaffung seiner eigenen Klassenorganisationen, der Arbeiterräte und -milizen, die materielle Möglichkeit dazu.

11 - Wie dem auch sei, die Vertreter des nationalen Staatsapparats stehen zwischen zwei abstoßenden Kräften: dem eigenen Proletariat und der russischen Bürokratie. Von ersterem in die Enge getrieben, flüchten sie sich unter den Schutz der letzteren. Aber in dem Maße, in dem die Bedrohung durch das Proletariat nachlässt oder in dem Maße, in dem sie die Überzeugung gewinnen, es mit ihren eigenen nationalen Kräften zurückdrängen zu können, entfernen sie sich von ihren Protektoren. Darauf beruhen ihre politischen Oszillationen. Diese finden jedoch um einen beweglichen Punkt herum statt, denn gleichzeitig übt der westliche Imperialismus eine starke Anziehungskraft auf all diese Regimes aus. Und über die Unwägbarkeiten ihrer wechselnden Beziehungen zur Bürokratie und zu den Massen ihres Landes hinaus geht ihre Grundbewegung in Richtung Westen, was die russische Bürokratie periodisch vor die Wahl stellt, entweder militärisch zu intervenieren wie in der Tschechoslowakei oder einen wachsenden Spielraum für Unabhängigkeit zu gewähren.

12 - Die Grundzüge einer sozialistischen revolutionären Politik in den Volksdemokratien ergeben sich aus dieser Situation, die durch den Dreieckskampf zwischen drei unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften gekennzeichnet ist.

Das Haupthindernis für das Entstehen revolutionärer proletarischer Bewegungen in den Volksdemokratien ist seit dem Zweiten Weltkrieg die russische Bürokratie, die wichtigste konterrevolutionäre Kraft in diesem Teil der Welt. Der sofortige Abzug der russischen Armee bleibt daher eine zentrale Forderung. Revolutionäre können unter keinen Umständen, weder direkt noch indirekt, eine Intervention der russischen Armee im Namen der angeblichen Bewahrung der sogenannten sozialistischen Errungenschaften rechtfertigen.

13 - Aber es versteht sich von selbst, dass eine solche Forderung an sich weder sozialistisch noch revolutionär ist. Folglich macht ihre Anerkennung durch eine gesellschaftliche Kraft, diese noch nicht zu einem Verbündeten des Proletariats. Insbesondere ist es notwendig, all jene zu bekämpfen, die versuchen, das Proletariat im Namen irgendeiner antirussischen nationalen Einheit hinter den nationalen Staatsapparat zu kanalisieren. Die Gomulkas, Nagys, Dubceks und ihresgleichen sind, egal welche Sprache sie sprechen, Todfeinde des revolutionären Proletariats und ziehen im Übrigen die Kontrolle der russischen Bürokratie über ihr Land immer noch der Mobilisierung des Proletariats als unabhängige Kraft mit eigenen Forderungen vor.

Der Kampf für die sozialistische Revolution in den Volksdemokratien erfordert sowohl den Kampf gegen die russische Bürokratie als auch den Kampf gegen die bürgerlichen Nationalisten.

14 - Ohne eine revolutionäre Partei als bewusstes Werkzeug dieses Kampfes wird der Kampf der Arbeitenden gegen die Diktatur und gegen die von der russischen Bürokratie verübte nationale Unterdrückung unweigerlich von nationalistischen Demagogen in eine Sackgasse gelenkt werden. Sich um die Schaffung solcher Parteien zu bemühen, ist für jeden Revolutionär unerlässlich und erst recht für eine revolutionäre Internationale, auch wenn sie sich noch im Aufbau befindet.

15 - Die mehr oder weniger sichtbaren politischen Vorgänge in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn usw. haben gezeigt, dass es Menschen, Strömungen und sogar Ansätze einer Organisation gibt, die die falsche Alternative zwischen Bürokratie und Bourgeoisie ablehnen und sich auf den revolutionären Sozialismus berufen. Mit diesen Strömungen in Verbindung zu treten und sie an das revolutionäre marxistische Programm heranzuführen, ist eine unerlässliche Aufgabe, und der Weg des Aufbaus der Internationale führt über diese Aufgabe.